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ein kleines Kind sitzt vor einem Zelt
2015 kamen sehr viele Geflüchtete nach Deutschland – Grund für Plan International Deutschland, auch auf nationaler Ebene zu unterstützen und sich für den Kinderschutz in Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland zu engagieren. © Plan International/ Jodi Hilton
22.02.2021 - von Plan Redaktion

„Geflüchtete sind nicht nur ein Teil unserer Gesellschaft, sondern auch ein Gewinn für diese Gesellschaft“

Fünf Jahre nach dem Start des Kinderschutzprogramms in Deutschland blickt Programmkoordinator und Kinderschutzexperte Farbod Mahoutchiyan im Interview auf die Anfänge zurück und erklärt, wo das Programm heute ansetzt.

2015 kamen viele Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern nach Deutschland – Grund für Plan International Deutschland, auch auf nationaler Ebene zu unterstützen und sich für den Kinderschutz in Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland zu engagieren. Farbod Mahoutchiyan, Programmkoordinator des daraus entstandenen Kinderschutzprogramms, war von Beginn an dabei und erzählt im Interview von den damaligen Eindrücken, wie sich die Arbeit des Deutschlandteams in den letzten fünf Jahren verändert hat und wo das Programm heute ansetzt.


Warum hat Plan angefangen, mit Geflüchteten in Deutschland zu arbeiten?
Farbod
Farbod Mahoutchiyan kam im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie aus dem Iran nach Deutschland. Die eigene Fluchterfahrung hilft ihm heute bei der Arbeit mit geflüchteten Kindern und ihren Familien in Deutschland. © Plan International

2015 und 2016 sind sehr viele Menschen nach Deutschland gekommen, um hier Schutz zu suchen. Das hat dazu geführt, dass teilweise die Systeme zur Unterbringung von geflüchteten Menschen überlastet waren. Menschen mussten in Zelten und teilweise an Bahnhöfen schlafen, viele werden sich an diese Bilder erinnern. Es wurden Hallen und ehemalige Baumärkte in Unterkünfte umgewandelt. Stell dir zwischen 700 und 800 Menschen in Notunterkünften vor, die eigentlich nur Platz für 500 Personen hatten. Wir haben genau in diesen Hallen angefangen zu arbeiten, weil es eine Notsituation für Kinder und Jugendliche war. Plan hat als humanitäre Organisation auch international immer schon Nothilfe geleistet und diese internationale Expertise wollten wir nun auch in Deutschland nutzen, um zusammen mit Behörden und Betreiberorganisationen von Notunterkünften sicher zu stellen, dass die Geflüchteten ihr Leben wieder in die Hand nehmen können und ein selbstbestimmtes Leben führen können. Dabei ging es uns vor allem um den Schutz von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, deren Bedürfnisse in solchen Situationen oft untergehen.

Was genau hat Plan denn in dieser ersten Zeit gemacht?

Meine ersten Arbeitstage bei Plan waren sehr turbulent. Ich erinnere mich sehr genau an eine ehemalige Baumarkthalle in Hamburg. Die Menschen waren auf Feldbetten untergebracht. Zwischen sich teilweise nur aufgespannte Tücher, die keinerlei Privatsphäre boten. Es hat mich an Bilder wie nach Katastrophensituationen erinnert. Das allerwichtigste dort war, den Menschen zuzuhören. Sie zu fragen, was sie brauchten. Ich hatte den Vorteil, dass ich Farsi spreche, meine Eltern haben wert darauf gelegt, dass ich diese Sprache nicht vergesse – zu Hause durften wir nur Farsi sprechen. So konnte ich meine Herkunftssprache behalten und das kam mir in den Gesprächen mit den Familien zu Gute. Die Menschen hatten vor allem den Wunsch, die Kontrolle über ihr Leben zurück zu erlangen, dass sie beteiligt werden an Entscheidungen, welche sie direkt betreffen. Sie hatten Angst davor, dass ihnen durch den Verlust dieser Kontrolle ihre Würde und ihr Stolz genommen wird. Das wichtigste für sie war, dass ihnen zugehört wurde und dass ihre Sorgen und Ängste ernst genommen wurden und gemeinsam nach Lösungen geschaut wurde.

Was hat Plan konkret gemacht, um Kinder zu schützen?

Im ersten Schritt führen wir immer eine Bedarfsanalyse durch, das heißt, wir schauen uns an, in welchen Situationen Familien und ihre Kinder leben und ob es Risiken in Bezug auf den Schutzaspekt für sie gibt. Außerdem führen wir Schulungen zum Kinderschutz in den Unterkünften durch. Dabei stellen wir uns immer wieder die Fragen: Wie kann verhindert werden, dass Kindern etwas passiert und was müssen Beteiligte für den Gewaltschutz im konkreten Fall tun? Wie funktioniert Konfliktmanagement? Welche Möglichkeiten gibt es, Kindern und Jugendlichen, vor allem Mädchen und jungen Frauen, das Leben zu erleichtern und ihnen eine Stimme zu geben?

Uns ist die Perspektive der Kinder besonders wichtig, wir wollen sie von Beginn an einbeziehen in das Thema. Wir lassen sie z.B. Karten ihrer Unterkünfte zeichnen. Darauf können sie markieren, wo sie sich sicher oder unsicher fühlen. Wir fragen dann, wo haltet ihr euch in den Unterkünften besonders gerne auf und wo lieber nicht, zu wem habt ihr eine gute Beziehung und zu wem eher nicht. Wo und was spielt ihr gerne? Das ist eine sehr einfache Methode, Partizipation zu ermöglichen. Die Kinder sagen uns, was ihr Problem ist und gemeinsam suchen wir dann eine Lösung dafür. Daraus und aus zusätzlichen Gesprächen mit den Eltern, Mitarbeitenden und weiteren Beteiligten ergibt sich dann für uns ein gutes Bild von der aktuellen Situation.

Wir schauen auch, ob eine Unterkunft kindgerecht ist im Hinblick auf die Infrastruktur. Das sind ja oft provisorische Unterkünfte, große Hallen oder ehemalige Bürogebäude. Oft wird nicht daran gedacht, dass das kindgerecht sein muss. Da gibt es dann zum Beispiel einen Sanitärraum mit Toiletten, den sich teilweise acht bis zehn Haushalte teilen. Abgesehen davon, dass das gerade jetzt zu Corona-Zeiten nicht förderlich ist, hängen die Waschbecken und Seifenspender oft viel zu hoch, sodass kleinere Kinder da gar nicht rankommen. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sich teilweise gar nicht an die Hygienevorschriften halten, was gerade jetzt eine große Herausforderung darstellt.

Und was passiert dann, wenn ihr die Risiken und Bedürfnisse festgestellt habt?

Im nächsten Schritt fassen wir unsere Erkenntnisse gemeinsam mit Handlungsempfehlungen basierend auf unserer Erfahrung in der humanitären Hilfe für Betreibende der Unterkünfte und auch für die Stadt in einem Bericht aus Sicht der Bewohnerinnen zusammen. Wenn es strukturelle Probleme sind, dauert die Lösung natürlich länger. Einmal hatten wir zum Beispiel eine Unterkunft mit einem viel zu niedrigen Zaun, so dass Kinder einfach hinüberklettern konnten. Die Unterkunft lag auch noch direkt an der Autobahn, also echt gefährlich. Das zu verbessern ist dann Aufgabe der Stadt, genauso wie beispielsweise Beleuchtung zu schaffen, wenn die Wege zu dunkel sind. Bauliche Maßnahmen sind klassische strukturelle Probleme. In diesem Fall hat die Stadt Hamburg sehr schnell reagiert und umfangreichere Verbesserungen vorgenommen.

Aber auch andere Schwierigkeiten kann die Betreiberorganisation häufig nicht alleine lösen, zum Beispiel, wenn es an psychosozialer Unterstützung für Bewohner:innen fehlt. Da unterstützen wir die Unterkünfte und schauen gemeinsam, welche Organisationen oder Angebote man dazu holen kann, um diesen Bedarf zu decken. Wir sind aber auch selbst tätig geworden, haben Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt oder Elterntrainings angeboten. Denn ein Kind kann nur in einer ruhigen, friedlichen Umgebung aufwachsen, wenn es den Eltern auch gut geht. Das heißt wir wollen einerseits Risiken minimieren und andererseits Schutzfaktoren stärken.

Plan hat mit Save the Children zusammen eine Expertise zur Situation von geflüchteten Kindern herausgegeben. Was war das Ergebnis?

Wir haben festgestellt, dass Kinder durch schwierige Lebensumstände stark belastet sind, was langfristige Konsequenzen hat. Die Bedingungen, unter denen die Kinder nach der Flucht leben, entscheidet darüber, ob und wie gut sie traumatisierende Erlebnisse verarbeiten können. Ein Kind, das nach der Flucht Erholung und Normalität, ein geregeltes Familienleben und vielleicht therapeutische Hilfe bekommt, hat die Chance, sich gesund weiter zu entwickeln. Ein Kind, das in einer Sammelunterkunft ständig Druck und Stress erlebt und auch Eltern hat, die sehr angespannt sind, ist viel gefährdeter. Das sind wesentliche Faktoren für die kindliche Entwicklung. Auch wenn die Situation nicht mehr dieselbe ist wie vor einigen Jahren und sich sehr vieles schon verbessert hat, haben wir doch noch eine Menge Herausforderungen vor uns. Wir kommen aber jetzt in den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Das heißt, jetzt geht es stärker in Richtung Integration. Wie funktioniert das mit der Kinderbetreuung, wer kann mich dabei unterstützen, meine Wohnsituation zu verbessern, wo bekomme ich gute Erziehungsberatung, wo kann ich zum Sprachkurs gehen, welche Ausbildung kann ich machen? Das sind die häufigsten Themen zurzeit.

Ein großer Teil eurer Arbeit besteht darin, Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben. Kannst du ein paar Beispiele nennen?

Wir machen Workshops mit Kindern und Jugendlichen, die mir immer wieder zeigen, was für ein riesiges Potenzial in ihnen steckt. Sehr spannend war zum Beispiel das Projekt „Perspektive Deutschland“. Das haben wir mit Jugendlichen aus dem Plan Jugendbeirat und geflüchteten Jugendlichen durchgeführt. Die Geflüchteten sind durch Hamburg gegangen und haben Fotos gemacht, die sie anschließend beschrieben haben. Diese Bilder haben sie dann ohne die dazugehörige Beschreibung den Jugendlichen aus dem Beirat geschickt, und diese mussten wiederum ihre Eindrücke beschreiben. Die unterschiedlichen Assoziationen waren sehr spannend zu beobachten. Da gab es zum Beispiel das Foto eines Fahrrads: Ein Mädchen aus dem Jugendbeirat schrieb: Gutes Fortbewegungsmittel, toll, um Sport zu machen. Wohingegen das Mädchen aus dem Iran schrieb, dass das Fahrrad für sie Freiheit bedeutete, denn in ihrem Heimatland ist es für Frauen verboten, Fahrrad zu fahren. Das schafft eine neue Perspektive auf ein eigentlich für uns alltägliches Objekt. Ein anderes Bild zeigte einen Mülleimer, der über und über mit Stickern beklebt war. Der Jugendliche aus dem Beirat schrieb: „Der Eimer ist schmutzig, müsste mal ausgetauscht werden.“ Für einen geflüchteten Jugendlichen war das Bild ein Beweis für Ordnung und Sauberkeit, weil ihm positiv auffiel, dass in Hamburg der Müll getrennt und recycelt wird. Ich erinnere mich an ein Foto von einem Metallzaun, an dem eine Wicke hochrankte. Die Jugendliche aus dem Beirat schrieb: Schöne Pflanze, aber der Zaun stört ein bisschen. Ein Mädchen aus Syrien beschrieb die Kletterpflanze als „Ruf und Kampf nach Freiheit“ und bewunderte, dass die Pflanze trotz Zaun hochwuchs und sich ihren Blick bahnte. Diese verschiedenen Blickwinkel haben uns alle emotional sehr berührt.

Viele Jugendliche sind nun schon lange in Deutschland. Welche Angebote gibt es für sie?

Wir haben tolle Projekte mit unseren Youth Advocates, das ist eine Gruppe sehr engagierter Jugendlicher, die sich für die Belange von geflüchteten Mädchen und Jungen einsetzen. Sie haben bei Tide TV, Hamburgs Bürgerfernsehkanal, kurze Videos von Jugendlichen für Jugendliche gemacht, in denen sie Tipps geben, wie man als junge Person zum Beispiel am besten durch die Corona-Zeit kommt.

Mit dem HVV hatten wir auch eine tolle Kooperation: Der HVV hat das Fahrgastfernsehen für mehrere Monate unseren Jugendlichen zur Verfügung gestellt und sie haben diesen Platz genutzt, um mit Statements auf Vorurteile hinzuweisen. Zum Beispiel sieht man bei einem Statement ein Mädchen mit Kopftuch, das zurecht sagt: „Beurteile mich nicht, bevor du nicht mit mir gesprochen hast“.

Du bist selbst als Kind mit deinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. Hilft dir diese Erfahrung bei deiner heutigen Arbeit?

Oh ja, sehr sogar. Ich bin mit zwei Jahren mit meiner Familie nach Deutschland gekommen und habe also selbst Erfahrung mit Flucht und Integration. Dadurch habe ich einen besonderen Blick auf die Situation, um mit Kindern und Jugendlichen in Fluchtkontexten zu arbeiten. Wir haben selbst lange in Unterkünften gelebt. Ich habe die Trauer und Anspannung meiner Eltern damals miterlebt, auch wenn ich selbst viele glückliche Erfahrungen hatte. Meine eigene Geschichte gibt mir Antrieb für diese Arbeit, weil ich weiß, was Menschen auf der Flucht und vor allem danach durchmachen. Wie man beispielsweise nie das Gefühl loswird, anders behandelt zu werden. Und selbst nach fast einem ganzen Leben in Deutschland spüre ich manchmal noch ein Ausgeschlossen sein und frage mich: „Was muss ich denn noch tun, um endlich Teil dieser Gesellschaft zu sein?“. Dieses Gefühl teilen viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, die hierherkommen und diesem Gefühl versuche ich in meiner Arbeit entgegenzuwirken. Denn wir können als Gesellschaft nur funktionieren, wenn wir auch alle Menschen mitnehmen.

Hast du einen besonders berührenden emotionalen Moment bei Plan erlebt?

Es gibt viele sehr berührende Momente. Das schönste Erlebnis hatte ich in der Hallenunterkunft in der Kieler Straße, diesem riesigen leeren Baumarkt, in dem Anfangs über 700 Geflüchtete lebten. Dort haben wir viele Aktivitäten mit Kindern durchgeführt und das fast täglich über ein Jahr. Ein 7-jähriges Mädchen aus Afghanistan hat mir zum persischen Neujahr, das gleichzeitig Frühlingsanfang in Europa ist, damals eine Blume als Glücksbringer gemalt. Das Bild habe ich heute noch und trage es immer in meiner Tasche, wenn ich zur Arbeit gehe.

Besonders in Erinnerung habe ich auch eine große Veranstaltung in Wandsbek, in welcher ich als Experte sprechen sollte. Ich habe kurzer Hand entschieden, zwei viel größere Expert:innen mitzunehmen: Zwei jugendliche Geflüchtete haben mich begleitet und auf dem Panel über ihre Situation gesprochen. Die beiden haben sehr selbstbewusst ihre Beiträge geleistet und wirklich großartige Vorschläge und Empfehlungen gegeben. Ich war in dem Moment unglaublich stolz und wusste, wir gehen den richtigen Weg mit unserem Konzept, Jugendliche zu stärken und ihnen eine Stimme zu geben. Sie haben eine flammende Rede gehalten, warum Kinderschutz ein wichtiges Thema ist. Professionell und emotional. Das hätte keiner von uns so machen können, die es nicht selbst erlebt haben. Es funktioniert und ist eine unglaublich tolle Ressource für unsere Arbeit und für unsere Gesellschaft. Wir sollten es so betrachten, dass Geflüchtete nicht nur ein Teil unserer Gesellschaft sind, sondern auch ein Gewinn für diese Gesellschaft. Wir sollten unsere Zeit nicht mit Hass und Vorurteilen verschwenden, wenn es doch solche tollen Möglichkeiten gibt.

In der neuen Podcast-Folge erfahrt ihr noch mehr von Farbod zum Kinderschutzprogramm in Deutschland!