
Der Gewalt entfliehen
Hinweis: Der nachfolgende Artikel beschreibt Formen extremer Gewalt und Armut
Als die Gewalt in Port-au-Prince, Haiti, im Jahr 2021 eskalierte, hatte die 31-jährige Marie* keine Wahl mehr. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern Junior* (15) und Teta* (13) floh sie aus der Hauptstadt. Die bewaffneten Banden hatten ihr Viertel unter Kontrolle gebracht. Das Haus, in das die Familie all ihr Erspartes gesteckt hatte, mussten sie zurücklassen.
„Wir dachten, die Lage würde sich verbessern“, erinnert sich Marie. „Aber dann geriet alles außer Kontrolle. Bewaffnete Männer übernahmen die Gegend, und wir mussten fliehen.“ Der Weg aus Port-au-Prince war gefährlich. Straßensperren, spontane Schießereien und Blockaden machten jeden Schritt zur Bedrohung. Besonders in Martissant, einem berüchtigten Viertel, hätte die Flucht jederzeit tödlich enden können. Schließlich erreichten sie Grand’Anse – Maries Geburtsort, der ihr nach den Jahren in der Hauptstadt jedoch fremd vorkam. Dort mietete sie ein bescheidenes Haus in der Hoffnung, wieder ein Stück Normalität zu finden.
* Namen zum Persönlichkeitsschutz geändert


„Auch wenn wir uns nicht zu 100 Prozent wohlfühlen, habe ich versucht, etwas Trost für uns zu schaffen“, sagt die zweifache Mutter. Doch Sicherheit bleibt in Haiti fragil. Mehr als 1,3 Millionen Menschen sind inzwischen vertrieben, darunter rund 700.000 Kinder – ein Anstieg um fast ein Viertel seit Ende 2024.
Über 1.600 Schulen mussten wegen der Gewalt schließen, was den Bildungsweg von mehr als 243.000 Kindern unterbrochen hat. Manche Schulen dienen heute als Notunterkünfte, andere wurden von bewaffneten Gruppen besetzt. Kinder laufen vermehrt Gefahr, ausgebeutet, missbraucht oder von Banden rekrutiert zu werden.
„Die Leute sagten mir, ich solle die Sache auf sich beruhen lassen, weil es nicht zu körperlichem Kontakt gekommen war.“
Bedrohungen im Alltag
Wie nah diese Gefahren sind, erlebte Marie in ihrer neuen Gemeinde. Eines Tages schickte sie Teta los, um in der Kirche eine Nachricht zu überbringen. Die 13-Jährige trug ein Tablet bei sich, als sie einem Mann begegnete, der sexuelle Anspielungen machte. Teta zeichnete die Bemerkungen des Mannes auf. „Sie hatte Glück, dass sie klug genug war, ihn aufzunehmen“, berichtet Marie. „Aber die Leute sagten mir, ich solle die Sache auf sich beruhen lassen, weil es nicht zu körperlichem Kontakt gekommen war.“ Offizielle Konsequenzen gab es keine. Stattdessen wurde Teta von anderen Kindern in der Nachbarschaft verspottet.


Tetas Blick in die Zukunft
Auch die Anpassung an das Leben in Grand’Anse fällt schwer. „Ich lebe seit vier Jahren hier. Es war schwer für mich, mich an die Lebensweise hier zu gewöhnen, weil ich nicht hier aufgewachsen bin“, erzählt Teta. Ihr Alltag besteht aus Schule, Hausarbeiten, Wasserholen und Fußball. Sie spielt als Mittelfeldspielerin, singt leidenschaftlich und träumt davon, Künstlerin, Krankenschwester oder Profifußballerin zu werden.
„Ich möchte aber auch meinem Land und den Kindern helfen, die nach mir kommen“, sagt sie. Doch auch sie weiß: Die Gefahren sind real. „Junge Menschen wie ich werden erschossen, während sie nach einem Weg zum Überleben suchen. Andere in meinem Alter werden auf dem Weg zur Schule entführt und sexuell missbraucht.“
Dass sie dennoch die Schule besuchen kann, grenzt an Glück. Anfangs war das unmöglich – ihr Impfausweis war auf der Flucht verloren gegangen. Durch ein Unterstützungsprojekt von Plan International konnte sie schließlich wieder am Unterricht teilnehmen. 20 Minuten braucht sie zu Fuß dorthin: „Ich mag die Schule, weil sie mir hilft, in Zukunft etwas zu werden“, sagt sie.
„Andere in meinem Alter werden auf dem Weg zur Schule entführt und sexuell missbraucht.“
Bildung und Schutz als Schlüssel
Die Lebensumstände von Familien wie Maries zeigen, wie wichtig gezielte Unterstützung in Haiti ist. Gemeinsam mit der haitianischen Organisation PRODEV setzt Plan International ein einjähriges Projekt in Grand’Anse um. Von Februar 2025 bis Februar 2026 werden Maßnahmen entwickelt, die Kindern Zugang zu Bildung ermöglichen und sie gleichzeitig vor Missbrauch und Gewalt schützen sollen.
Das Projekt arbeitet auf mehreren Ebenen: Schulen werden mit Material ausgestattet, Klassenzimmer und Sanitäranlagen verbessert und Lehrkräfte geschult, damit Kinder in einer sicheren Umgebung lernen können. Familien erhalten gezielte finanzielle Unterstützung, um den Schulbesuch ihrer Kinder abzusichern. Gleichzeitig gibt es psychosoziale Angebote: Kinder lernen in Gruppenübungen, wie sie Gefühle erkennen, über Probleme sprechen und Unterstützung einfordern. Ein zentraler Bestandteil sind Schutzmechanismen, die Kinder aktiv vor Ausbeutung, Missbrauch oder Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen bewahren. Dazu gehören Aufklärungsworkshops für Kinder und Eltern über Risiken und Warnsignale, Notfallkontakte sowie sichere Wege zur Schule. Auch Teta nimmt an den Aktivitäten von Plan International teil. „Sie zeigen uns, wie wir uns schützen können“, erzählt sie. Gleichzeitig äußert sie eigene Wünsche: „Ein Sommercamp, wo wir spielen und lernen könnten, das würde mich glücklich machen.“



Eine Zukunft ohne Angst
Die Worte von Marie und Teta machen deutlich, wie schwer das Leben in Haiti im Moment ist – und zugleich, wie stark der Wille ist, weiterzumachen. Sie erinnern daran, dass Zukunft nicht allein von politischen Entwicklungen abhängt, sondern auch von Müttern, die ihre Kinder beschützen, und Mädchen, die trotz aller Widrigkeiten lernen wollen. Inmitten von Unsicherheit bleibt so etwas bestehen, das größer ist als Angst: die Hoffnung, dass Bildung und Schutz eines Tages selbstverständlich sein werden.
Die Geschichte von Marie und ihrer Familie wurde mit Material aus dem haitianischen Büro aufgeschrieben.