
„Die Kinder sind unsere Zukunft“
„Ich erinnere mich an ein Mädchen, das sehr gerne Spielsachen reparierte. Als ihr Vater sie eines Tages fragte, warum sie das täte, erzählte sie ihm, sie wolle später Ingenieurin werden. Ihr Vater erwiderte, das sei nur etwas für Jungen. Auch in der Schule wurde sie für ihren Berufswunsch gehänselt. Als sie dann erwachsen wurde, ignorierte sie all das. Sie wurde Ingenieurin, denn sie wusste: Sie ist genauso wertvoll wie ein Mann und kann einen Beitrag für ihre Familie und die Gesellschaft leisten.“
Diese Geschichte erzählt die 33-jährige Lehrerin Rose gerne. Sie will damit betonen, dass Kinder das Recht auf ein normales Leben haben und die Aufmerksamkeit bekommen sollen, die sie verdienen. Nur so können sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist es auch, lesen und schreiben zu können. Doch genau das ist in vielen Ländern noch immer ein Privileg – oder durch Gewalt, politische Unruhen und bewaffnete Konflikte gefährdet. Der Weltalphabetisierungstag, der jährlich am 8. September begangen wird, soll den Blick dafür schärfen.


Ein Land, das von Gewalt gezeichnet ist
Seit mittlerweile sieben Jahren übt Rose mit Leidenschaft und Überzeugung ihren Lehrberuf aus. Kinder habe sie schon immer geliebt, sagt sie. Doch in ihrem Heimatland Haiti sind die Voraussetzungen für inklusiven und diskriminierungsfreien Unterricht denkbar schlecht.
Die kriminelle Bandengewalt hat Haitis Kinder fest im Griff. Viele werden ausgebeutet, sexuell missbraucht und durch bewaffnete Gruppen rekrutiert. Als Epizentrum der Gewalt gilt die Hauptstadt Port-au-Prince, doch die Banden kontrollieren auch weitere Teile des Landes.
Gleichzeitig ist Haiti das ärmste Land Amerikas. Rund 60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, fast 50 Prozent sind von Hunger bedroht. Seit 2016 gab es in dem Karibikstaat keine Wahlen mehr. Die Übergangsregierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Viele Familien sind deshalb als Binnenvertriebene auf der Flucht. Mehr als 1,3 Millionen Menschen sind es derzeit – darunter 700.000 Kinder.
„Viele Kinder aus Port-au-Prince sind verschlossen und verbergen ihr Trauma.“
Ein Bildungssystem im Zerfall
Seit Dezember 2024 ist die Zahl der Schulschließungen drastisch gestiegen – mehr als 1.600 waren es allein bis April 2025. Fatal in einem Land, in dem die Alphabetisierungsrate ohnehin nur bei 65 Prozent (Männer) respektive bei 58 Prozent (Frauen) liegt. Viele ehemalige Unterrichtsgebäude dienen jetzt als Vertriebenenunterkünfte, werden von bewaffneten Gruppen besetzt oder wurden aufgrund der unsicheren Lage umgesiedelt.
Insgesamt 243.000 Kinder mussten deshalb die Schule abbrechen. Das macht sie noch vulnerabler gegenüber der grassierenden Gewalt. Behelfsmäßige Lernorte gibt es zwar, dort fehlt es aber oft an grundlegender Infrastruktur, Wasser, sanitären Einrichtungen und lebenswichtigen Gütern.

Ein sicherer Hafen für geflüchtete Kinder
Rose ist Schulleiterin an einer Grundschule im Departement Grand‘Anse, im Südwesten der Insel. Dorthin flüchten die meisten Menschen vor der Gewalt in der Hauptstadt. „Viele Kinder aus Port-au-Prince sind verschlossen und verbergen ihr Trauma“, erzählt sie. „Außerdem fehlen ihnen manchmal die notwendigen Materialien, weil es sich ihre Eltern nicht leisten können, Bücher für sie zu kaufen.“
Da sie den Kindern, die sie unterrichtet, eine möglichst gute Lehrerin sein will, hat Rose bereits an mehreren Schulungen zum Thema Kinderschutz und Kinderrechte teilgenommen – zuletzt im Mai 2025. In dieser von Plan International organisierten Veranstaltung sprach sie zusammen mit 300 anderen Lehrkräften unter anderem über Gleichstellung und psychosoziale Unterstützung.
„Ich habe gelernt, spielerischer mit Kindern umzugehen, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und ihre Rechte zu schützen“, erzählt Rose. Besonders beeindruckt war sie von der Chancengleichheit der Geschlechter. „Als Frau habe ich gelernt, dass ich wertvolle Qualitäten habe, die anerkannt werden müssen, genau wie die von Jungen und Männern.“ Diese Erkenntnis hat Rose darin bestärkt, die Chancengleichheit in ihrer Klasse zu fördern und dafür zu sorgen, dass sich jedes Kind – unabhängig von Geschlecht oder Herkunft – wertgeschätzt fühlt.

„Wenn geflüchtete Kinder ankommen, stellen wir sie als neue Familienmitglieder vor. So ermutigen wir die anderen Kinder, sich um sie zu kümmern.“

Ein offenes Ohr für traumatisierte Kinder
Das Plan-Projekt im Departement Grand‘Anse läuft noch bis Februar 2026. Die Schulungen für Lehrkräfte sind ein Baustein der Projektaktivitäten. Darüber hinaus verteilt die Kinderrechtsorganisation Schulmaterialien und setzt die schulische Infrastruktur instand. Gefährdete Kinder werden zudem für den Schutz vor Missbrauch sensibilisiert, bekommen Nachhilfeunterricht und können an Freizeitaktivitäten teilnehmen.
Ziel ist es, geflüchteten und traumatisierten Kindern eine sichere Anlaufstelle zu bieten und ihnen faire Bildungschancen zu ermöglichen. Roses Schule besuchen aktuell etwa 15 Kinder aus Port-au-Prince. „Wenn geflüchtete Kinder ankommen, stellen wir sie als neue Familienmitglieder vor“, erklärt die Schulleiterin voller Stolz. „So ermutigen wir die anderen Kinder, sich um sie zu kümmern.“
Dieser Ansatz soll Mobbing entgegenwirken und ein unterstützendes Umfeld schaffen. Rose erinnert sich an einen Jungen aus Port-au-Prince, der anfangs schüchtern und zurückhaltend war. „Er war traumatisiert“, sagt sie. „Aber wir haben ihn nicht verurteilt. Wir haben mit ihm geredet und einen Psychologen hinzugezogen. Inzwischen taut er immer mehr auf und fühlt sich in seiner Klasse wohl.“

Eine faire Chance für alle
Die Schule kümmert sich auch um materielle Engpässe. „Wir haben zusätzliche Bücher und Unterlagen für Kinder, deren Eltern sie sich nicht leisten können“, erklärt Rose. Diese gibt sie dann als Geschenke an die Kinder, damit alle Schüler:innen gleichermaßen am Unterricht teilhaben können.
„Unterrichten ist nicht einfach“, gibt sie zu bedenken. „Die Schulungen erinnern uns daran, dass jedes Kind unterschiedliche Bedürfnisse hat. Das bedeutet, wir als Lehrkräfte müssen uns mit jedem Kind individuell auseinandersetzen und es respektieren.“ Dieser Ansatz steht im Einklang mit den übergeordneten Zielen von Plan International: Kindern und Jugendlichen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, indem ihre eigenen Ansichten und Bedürfnisse gehört werden. Das soll grundlegenden Ursachen von Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenwirken und positive Veränderungen vorantreiben.
Eine Lehrerin mit Leidenschaft
Ihre Arbeit sieht Rose auch im größeren Kontext der anhaltenden Krise in Haiti. „Die Kinder sind die Zukunft unseres Landes“, sagt sie. „Wir müssen sie unterstützen, statt sie zu verurteilen.“ So will Rose ihre Schule zu einem sicheren Ort des Lernens und der Weiterentwicklung machen – für alle Kinder, egal mit welcher Vorgeschichte.
Die Geschichte von Rose wurde mit Material aus dem haitianischen Plan-Büro erstellt.