
„Es ist ein Krieg gegen die Kinder“
Unter den seit Oktober 2023 mehr als 60.000 getöteten Palästinenser:innen im Gazastreifen sind offiziellen Angaben zufolge mindestens 20.000 Kinder. Die Überlebenden ringen mit einer akuten Hungersnot sowie einem Mangel an Wasser und medizinischer Versorgung. Viele Mädchen und Jungen sind von ihren Familien getrennt, haben keinen sicheren Zufluchtsort, erleben extreme Gewalt und brauchen dringend Unterstützung. Die Bodenoffensive, die seit Mitte September auf Gaza-Stadt läuft, bedroht die schwierigen Bemühungen, Hilfe zu leisten.
Im Interview schildert Hamida Jahamah, Länderdirektorin von Plan International Jordanien, welche humanitären Maßnahmen die Kinderrechtsorganisation in Gaza ergreift und was die Herausforderungen der Arbeit vor Ort sind.



Plan Post: Wie ist die Lage in Gaza derzeit?
Hamida Jahamah: Die Menschen in Gaza erleben eine der größten humanitären Katastrophen weltweit. Aus humanitärer Sicht kann man den dort stattfindenden Krieg als einen Krieg gegen die Kinder bezeichnen. Sie und ihre Eltern haben im Schnitt jeden dritten Tag nichts zu essen. Viele stehen vor der schwierigen Entscheidung, entweder ihr Leben zu riskieren oder tagelang zu hungern. Diese Notlage ist nicht aufgrund von Versorgungsengpässen oder fehlenden Finanzmitteln entstanden – sie ist künstlich herbeigeführt. Die Hilfsgüter befinden sich buchstäblich nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, werden aber nicht vollumfänglich ins Land gelassen. Seit Einrichtung der militarisierten Hilfsstationen der Gaza Humanitarian Foundation sind Tausende bei dem Versuch, Hilfe zu erhalten, ums Leben gekommen.
„Die Folgen der traumatischen Kriegserlebnisse werden die Menschen noch über Jahre hinweg spüren.“
Die Hungersnot ist vor Ort nur eine von vielen Krisen, oder?
So ist es. Die gesamte Versorgung ist zum Erliegen gekommen. Wir sprechen hier von Gesundheitsversorgung, Stromversorgung, Unterkünften und Bildung. All diese grundlegenden Versorgungseinrichtungen werden gezielt angegriffen. Viele der noch intakten Krankenhäuser können nur mit sehr begrenzten Kapazitäten arbeiten und sind nicht in der Lage, die Bevölkerung adäquat zu versorgen. Hinzu kommen die psychischen Belastungen des Krieges, denen Zivilist:innen seit über 700 Tagen ausgeliefert sind. Viele haben geliebte Menschen verloren oder mussten mit ansehen, wie ihre Wohnhäuser, Schulen und Kulturstätten vor ihren Augen zerstört wurden. Die Folgen dieser traumatischen Erlebnisse werden sie noch über Jahre hinweg spüren.
In erster Linie halten Spenden das humanitäre System am Laufen, das für die Menschen in Gaza gerade so überlebenswichtig ist. Aber wie kann sich die Weltöffentlichkeit darüber hinaus solidarisch zeigen?
Es ist sehr wichtig, das Töten nicht zu normalisieren. Es darf nicht sein, dass Kinder bei dem Versuch, Hilfe zu erlangen, getötet werden. Daran müssen wir uns immer wieder erinnern. Wenn wir sehen, dass Unrecht geschieht, dann dürfen wir dieses Unrecht nicht schweigend hinnehmen, sondern müssen es als solches benennen. In der Anfangsphase des Krieges haben die Menschen noch diskutiert und die Kampfhandlungen gerechtfertigt. Aber nach rund zwei Jahren der Zerstörung und des Leids kann es keine Rechtfertigungen mehr geben. Deshalb sollten wir uns alle – in Gesprächen, in den Medien, in der Politik – dafür einsetzen, dass das Töten von Kindern nicht normalisiert wird und niemals normalisiert werden darf.



Kommen wir nochmal auf den Begriff „humanitäre Katastrophe“ zurück. Was versteht man darunter, und wieso trifft er auf die Situation in Gaza zu?
Von einer humanitären Katastrophe sprechen wir, wenn alle grundlegenden Existenzbedingungen für Betroffene zusammenbrechen. Dazu zählt Ernährung, Gesundheit, Bildung, Unterkunft, aber auch das Gefühl von Sicherheit. Gerade Letzteres fehlt derzeit in Gaza völlig. Wir sprechen von 2,1 Millionen Menschen, die sich in einer extremen Notlage befinden. Von über 500.000 Menschen, die keine Nahrung mehr haben und deren Leben massiv bedroht ist, darunter viele schwangere und stillende Mütter. Allein über 320.000 Kinder unter fünf Jahren sind akut unterernährt.
Plan International legt in Gaza einen besonderen Fokus auf die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen, also Frauen und Kinder. Warum sind gerade sie so gefährdet?
Kinder und Frauen werden am häufigsten bei dem Versuch, an Lebensmittel zu gelangen, getötet. Mehr als eine Million Mädchen und Jungen benötigen außerdem dringend psychosoziale Unterstützung – angesichts der Gräueltaten und der Zerstörung, die sie erlebt haben. Außerdem konfrontiert der Krieg die Mädchen und Frauen mit zusätzlichen Herausforderungen. Ihnen fehlen Damenbinden, sauberes Wasser, Toiletten. Viele von ihnen nehmen Tabletten ein, damit sie keine oder eine stark abgeschwächte Periode bekommen. Denn sie haben buchstäblich nichts, um sich während der Menstruation versorgen zu können.
Welche Maßnahmen ergreift Plan International, um den Menschen in Gaza zu helfen?
Wir arbeiten über unsere beiden Zugangspunkte – die Plan-Büros in Jordanien und Ägypten – sowie mit 15 lokalen Partnern in Gaza, die vor Ort Erfahrung haben und die Bedarfe der Menschen kennen. Von August bis September 2025 konnten bereits zehn Lastwagen mit Lebensmitteln die Menschen in Gaza erreichen. Insgesamt konnten wir rund 255.000 Menschen mit warmen Mahlzeiten, Lebensmittelpaketen, Trinkwasser, Hygieneartikeln, Erste-Hilfe-Kits, Decken, Winterkleidung, Bargeld, Unterkünften sowie medizinischer und psychosozialer Unterstützung versorgen. Sechs Übergangslernräume sind eingerichtet, in denen rund 1.500 Kinder mit Gleichaltrigen zusammenkommen und mental sowie physisch ein wenig Abstand zum Krieg gewinnen können. Aktuell haben wir mehr als 40 Lastwägen in Vorbereitung, die mit Lebensmitteln, Babymilch und Hygieneartikeln nach Gaza fahren sollen. Außerdem haben wir in der Westbank rund 4.000 Menschen mit Hilfsgütern, insbesondere Lebensmittelpaketen, versorgt. All das ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.


Vor welchen Herausforderungen steht Plan International bei diesen Hilfsleistungen?
Die Militarisierung der Hilfslieferungen hat im Grunde genommen das gesamte von den Vereinten Nationen geleitete humanitäre System lahmgelegt. Die erste und drängendste Herausforderung ist also der massiv erschwerte Zugang für humanitäre Hilfe nach Gaza. Die zweite große Herausforderung betrifft die anhaltende Sicherheitslage vor Ort. Aktuell kann Plan seinen lokalen Partnern nicht die benötigte Unterstützung bieten. Unsere Partner:innen leiden selbst Hunger, leisten aber dennoch unermüdlich Hilfe – und das mit einer unglaublichen Energie. Hinzu kommt, dass sich die Situation immer weiter verschlimmert. Die Bodenoffensive auf Gaza-Stadt wird noch mehr Zerstörung bringen und Menschenleben fordern. Das wird auch internationale Hilfsorganisationen wieder vor neue Herausforderungen stellen. Deshalb spricht sich Plan International auch klar für einen Stopp der Waffenlieferungen nach Israel aus. Die Gewalt in der Region muss ein Ende finden.
„Die Kinder in Gaza haben jegliche Hoffnung auf Hilfe verloren.“

Und was ist mit den Menschen, die geflohen sind?
Im Moment ist die Zahl der seit Oktober 2023 nach Jordanien geflüchteten Menschen sehr begrenzt. Allerdings beherbergt das Land bereits seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 rund zwei Millionen palästinensische Geflüchtete. Ihnen stehen wir auch aktuell mit psychosozialer Unterstützung zu Seite – gerade, weil wir wissen, dass viele von ihnen Verwandte in Gaza haben.
Kommen wir zurück zu den Kindern in Gaza. Was brauchen sie langfristig gesehen, um wieder Stabilität zu erlangen?
Die Kinder in Gaza haben jegliche Hoffnung auf Hilfe verloren. Seit der Staatsgründung Israels 1948 sind 77 Jahre vergangen, in denen ihnen wenig bis keine Beachtung geschenkt wurde. Wir müssen also das Vertrauen der Mädchen und Jungen wiederherstellen. Wir müssen ihnen zeigen, dass es menschliche Solidarität gibt, dass wir uns um sie kümmern und dass wir für sie da sind. Dazu braucht es einen strukturierten, systematischen Weg – eine gemeinsame Basis, auf der wir unsere Rolle als humanitäre Helfer unter Beweis stellen können. Dazu muss es zuerst wieder ungehinderten Zugang der palästinensischen Bevölkerung zu humanitärer Hilfe geben.
Was darüber hinaus benötigt wird, sind intensive psychosoziale Hilfsprogramme. Die Zahl der Waisenkinder, der Traumatisierten und der Menschen mit Amputationen gehört zu den höchsten weltweit. Sie benötigen dringend Unterstützung. Und natürlich muss umfassend mit den Familien und den Gemeinden zusammengearbeitet werden. Der Wiederaufbau des Gazastreifens wird lange dauern und wann damit begonnen werden kann, ist ungewiss. Was wir jedoch wissen, ist, dass die täglichen Überlebenskämpfe der Menschen vor Ort weit über die Grenzen des Vorstellbaren hinausgehen.
Wie bleibt man angesichts einer solch dramatischen Lage dennoch hoffnungsvoll?
Wenn ich auch nur einem Kind helfen kann, gibt mir das bereits Hoffnung. Die Tatsache, dass wir eine Mission und ein Ziel haben, treibt mich an und stimmt mich optimistisch – trotz allem, was weltweit um uns herum geschieht. Wir unterstützen in Gaza all diejenigen, die unsere Hilfe am dringendsten brauchen. Zu sehen, was wir vor Ort bewirken können, gibt mir jeden Tag neue Kraft.
Hamida Jahamah hat als Länderdirektorin die strategische Leitung des jordanischen Plan-Büros inne. Zu ihren Fachgebieten zählen Kinderschutz in Notfällen, Programme für Mädchen und Gleichstellung der Geschlechter. Das Interview hat die Plan Post-Redaktion persönlich mit ihr in Hamburg geführt.
