Niemand schützt Mädchen – außer, sie tun es selbst

Foto: Balbine Ngwa

Mehr als jede zweite Teenagerin einer Plan-Langzeitbeobachtung im Globalen Süden erlebt männliche Gewalt als unvermeidliche Realität – und glaubt, der Schutz davor sei ihre Verantwortung. Das zeigt der Bericht „Wir sollten uns nicht mit Angst bewegen müssen“.

Je älter Mädchen werden, desto mehr glauben sie, dass es ihre alleinige Verantwortung sei, sich durch angemessenes Verhalten vor männlicher Gewalt schützen zu müssen. Dies zeigt ein Bericht von Plan International, der im Rahmen der Langzeit-Kohortenstudie „Real Choices, Real Lives“ entstanden ist.

Die Kinderrechtsorganisation hat darin 142 Mädchen in Benin, Brasilien, der Dominikanischen Republik, El Salvador, Kambodscha, den Philippinen, Togo, Uganda und Vietnam von ihrer Geburt bis zu ihrem 18. Lebensjahr begleitet. Dabei wurden sie unter anderem mehrfach zu ihrer Einstellung zu Gewalt und Geschlechterrollen befragt.

Ein Mann baut sich bedrohlich vor einer Frau auf, die am Boden vor ihm kauert
Mädchen im Globalen Süden glauben, dass es allein ihre Verantwortung sei, sich vor männlicher Gewalt schützen zu müssen Balbine Ngwa

Alarmierende Zahl von Gewalterfahrungen

Ein Ergebnis der Befragung von Plan International: Bei Mädchen im frühen Teenageralter von 14 bis 15 Jahren waren 68 Prozent der Meinung, dass männliche Aggressionen ein unvermeidlicher Teil des Lebens seien. Während bei den 14- bis 15-jährigen Mädchen insgesamt 57 Prozent sagten, es sei ihre eigene Aufgabe, sich vor Gewalt und Missbrauch zu schützen, stieg diese Zahl im Alter von 17 bis 18 Jahren sogar auf 67 Prozent an.

Nach Angaben der Vereinten Nationen haben weltweit mehr als eine Milliarde Mädchen und Frauen in ihrem Leben körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt erfahren. Jede Dritte ist Statistiken zufolge davon betroffen. Innerhalb der Gruppe der Befragten berichteten alarmierende 91 Prozent der Mädchen von Gewalterfahrungen. Bei einigen hatten diese schon im Alter von elf Jahren begonnen.

Die Hand eines Mannes hält einen Stock zum Prügeln bereit
Weltweit haben mehr als eine Milliarde Mädchen und Frauen in ihrem Leben körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt erfahren Mark Read

„Natürlich ist es das Mädchen, das sich selbst schützen muss, denn wenn sie es nicht macht, wird es niemand anderes tun.“

Katerin* (15), Teilnehmerin der Langzeit-Kohortenstudie „Real Choices, Real Lives“ aus der Dominikanischen Republik

Geschlechternormen schränken Freiheit von Mädchen ein

Der Bericht „We Shouldn't Have to Walk with Fear“ („Wir sollten uns nicht mit Angst bewegen müssen“) zeigt, wie tief verwurzelte Geschlechternormen die Wahrnehmung von Gewalt durch Mädchen prägen und ihre Freiheit einschränken.

„Die Pubertät ist eine Zeit, in der Mädchen über Freunde, die Schule und ihre Zukunft nachdenken sollten – und nicht darüber, wie sie die Straße entlanggehen können, ohne angegriffen zu werden“, sagt Petra Berner, Vorstandsvorsitzende von Plan International Deutschland. „Viele Mädchen wachsen weltweit mit der Sorge auf, wie sie gehen, sprechen oder sich anziehen sollten. Wenn sie belästigt, schikaniert oder angegriffen werden, laufen sie Gefahr, dass ihnen vorgeworfen wird, sie hätten die Situation provoziert – das ist eine Umkehr von Verantwortlichkeiten und für uns als Kinderrechtsorganisation nicht hinnehmbar.“

Drei Mädchen halten selbst gestaltete Wandplakate in die Kamera
Mädchen in Mosambik organisieren sich im Plan-Jugendclub „Champions of Change“ und machen unter anderem mit selbst gestalteten Plakaten auf die Folgen von Missbrauch, Gewalt und sexuellen Übergriffen aufmerksam Hartmut Schwarzbach

„Man kann Jungen beibringen, nicht mehr aggressiv zu sein; es ist die Pflicht der Eltern, ihre Söhne zu erziehen und sie auf den richtigen Weg zu bringen.“

Catherine* (17), Teilnehmerin der Langzeit-Kohortenstudie „Real Choices, Real Lives“ aus Benin

Verinnerlichte Geschlechternormen und schädliche Traditionen schränken die Freiheit von Mädchen weltweit ein. Sie führen dazu, dass Teenagerinnen genau schauen, wohin sie gehen, wie sie sich kleiden und mit wem sie ihre Zeit verbringen. Die Befragung macht deutlich, dass Familien häufig den Opfern von Übergriffen die Schuld geben – insbesondere, wenn ein Mädchen sich in einer Weise verhalten oder gekleidet hat, die von den traditionellen Erwartungen abweicht. Diese Stigmatisierungen bringen Mädchen zum Schweigen, halten sie davon ab, im Falle erlebter Vergehen Anzeige zu erstatten, und führen oft dazu, dass sexualisierte Gewalt unkontrolliert weitergeht.

Gesellschaftlicher Wandel möglich

Die Untersuchung ergab aber auch, dass Mädchen an positive Veränderungen glauben: 89 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass Eltern ihre Jungen so erziehen könnten, dass diese nicht gewalttätig oder aggressiv werden.

Plan International appelliert an politische Entscheidungsträger:innen, institutionelle Geber sowie die Zivilgesellschaft, dringend in Programme zu investieren, die schädliche Geschlechternormen infrage stellen, geschlechtsspezifische Gewalt verhindern und heranwachsende Mädchen stärken.

„Um eine Welt zu schaffen, in der Mädchen frei von Angst leben können, müssen wir schon früh damit beginnen, mit Familien, Schulen und Gemeinden zusammenzuarbeiten, denn alle Mädchen verdienen uneingeschränkte Freiheit für ihr Leben. Indem wir die Geschlechternormen in diesem entscheidenden Alter infrage stellen, können wir diese schädlichen Kreisläufe durchbrechen“, so Petra Berner.

* Namen zum Schutz der Identität geändert.

Real Choices Real Lives

Die Ergebnisse des englischsprachigen Berichts „We Shouldn't Have to Walk with Fear“ („Wir sollten uns nicht mit Angst bewegen müssen“) finden Sie hier.

Mehr erfahren

Sie mögen diesen Artikel? Teilen Sie ihn gerne.