Wozu Schulhefte gut sein können
Ihr Patenkind Vincent in Uganda kannte Kerstin Kloss aus Hamburg zehn Jahre lang nur von Fotos und Briefen. Kurz bevor die Patenschaft endete, besuchte sie den inzwischen 18-Jährigen in seinem Dorf und erlebte, wie sehr Aids und Analphabetismus in den Familien das Leben der Kinder und Jugendlichen prägen. Lesen nachfolgend ihren Bericht.
Patenkindbesuch bei Vincent
Freunde in Kenias Hauptstadt Nairobi haben mich am Abend zum Nachtbus Richtung Uganda gebracht. Der Grenzübertritt ist unkompliziert, die letzten sechs Kilometer nach der Grenze bis Tororo legt der Bus schnell zurück. Nur vergisst der übermüdete Fahrer, mich aussteigen zu lassen. So muss ich mit meinem schweren Rucksack geschätzte zwei Kilometer und gefühlt mindestens doppelt so lang in den Ort zurück laufen. Vor der Bank sehe ich einen Pickup mit Plan-Logo parken. Die freundlichen Mitarbeiter nehmen mich mit in ihr Büro, das etwas außerhalb auf einem Campus liegt. Dort bestaune ich das Archiv mit den Daten von 14.000 Patenkindern aus dem Distrikt. Schnell klettert das Thermometer über 30 Grad. Todmüde warte ich, bis Sponsorship Manager Christine Ikee eintrifft. Sie macht mich mit Philippe bekannt, dem Sozialarbeiter, der meinen Patenjungen Vincent betreut.
Frühe Verantwortung für die Familie
Von Philippe erfahre ich, dass Vincents Vater vor ein paar Jahren an Aids gestorben ist. Seitdem auch der Großvater tot ist, trägt Vincent mit 18 Jahren die Verantwortung für seine Familie. Er war immer ein schlechter Schüler, es hat Jahre gedauert, bis er schreiben konnte. Als sein Vater starb, brach Vincent den Schulbesuch ab, ein Jahr fehlt ihm bis zum Abschluss der Primary School. Wie seine Eltern, beides Analphabeten, arbeitet er in der Landwirtschaft. Enttäuschung macht sich breit, weil mein Patenjunge die Schule nicht als Chance für ein „besseres“ Leben genutzt hat. Aber ich spüre, wie mir meine „europäische Brille“ hier in Ostafrika die Sicht verbaut. Ich kann es kaum erwarten, Vincent in seinem Dorf endlich persönlich kennenzulernen.
Mit Knicks begrüßt
Als ich am Besuchstag pünktlich um neun Uhr im Plan-Büro erscheine, ist Philippe nicht da. Nach einem Mopedunfall liegt er im Krankenhaus. So begleiten mich Christine und Norah Aliyinza, Sponsorship Secretary aus Kampala, mit einem Fahrer zu Asinge C, Vincents Dorf. Zwischen den reetgedeckten Rundhütten erwarteten uns ein Dutzend Leute. Als erstes erkenne ich Pulkeria, Vincents Mutter. Sie sieht genauso aus wie auf den Fotos. Nur bemerkte ich jetzt, dass ihr die Schneidezähne fehlen.
Dann steht Vincent vor mir, der mir die Hand reicht. Ihn erkenne ich auch gleich wieder. Er hat sich lässig zurechtgemacht in weißem Hemd, Jeans mit auffälligem Gürtel und silberfarbener grober Gliederkette. Leider stellt sich heraus, dass er kein Englisch spricht, sein Cousin Albert dolmetscht.
Pulkeria und die anderen Frauen begrüßen mich mit einem Knicks, die respektvolle Geste beschämt mich fast. Zwei ehrenamtliche Sozialarbeiter aus der Gemeinde übersetzen und erklären das Dorfleben.
Wozu Schulhefte gut sein können
Ich zeige Vincent seinen letzten Brief an mich und sämtliche Fotos, die ich im Laufe der Jahre von ihm bekommen habe. Zwischendurch bemerke ich, dass er sich die Bilder auf dem Kopf stehend ansieht. Nachdem Pulkeria und die anderen mir ihre Grundnahrungsmittel Maniok und Sorghum gezeigt haben, ist es Zeit für eine Dorfbesichtigung.
Beim Betreten von Vincents kleiner, selbst gebauter Rundhütte mache ich eine Entdeckung: Er ist ein Künstler! Unterm Reetdach trennen zwei Vorhänge den Eingang vom Schlafbereich ab. Das Kreativste baumelt unter der Decke: Auf Bindfäden hat mein Patenjunge einzelne vollgeschriebene Seiten aus seinen Schulheften drapiert. Jede Seite hat er zieharmonikaartig gefaltet, in der Mitte geknickt und über die Schnur gehängt. Wozu Schulhefte gut sein können!
Nachmittags ein Sonnenbad
Als mir Albert und Vincent die halbfertige Hütte von Vincents Bruder zeigen, frage ich nach Heiratsplänen. Ja, er wolle bald heiraten, sagt Albert. Nein, er nicht, meint Vincent, er sei zu jung. Während Mädchen in Uganda mit 17 oder 18 ihr erstes Kind kriegen, gründen Jungs meist mit 20 eine Familie. Wie sieht Vincents Tagesablauf aus?, will ich wissen. Lange kommt nichts außer Grinsen. Morgens geht er aufs Feld, bis zum Mittagessen. Danach setzt er sich in die Sonne und verträumt den Nachmittag. Sein Zeitplan ließe Raum, den Schulabschluss nachzuholen, schießt mir durch den Kopf.
Plötzlich steht Vincent mit einem Huhn unterm Arm da, mein Gastgeschenk. Wer beim Überreichen mehr Angst hat, das Huhn oder ich, ist schwer zu sagen. Alle lachen. Zeit, auch meine Gastgeschenke zu überreichen. Vincent bekommt eine batterielose Taschenlampe – Strom gibt es im Dorf nicht – Pulkeria ein buntes Tuch, Albert einen Kugelschreiber. Eilig bringen ein paar Leute eine Bastmatte, auf der Norah und ich Lebensmittel ausbreiten, die wir eingekauft haben. Reis, Maismehl, Zucker, Öl und Seife haben einen Gegenwert, der das Monatseinkommen der Familie übersteigt.
Leben trotz Aids
Nach dem Gruppenfoto informiert mich Christine, dass Pulkeria HIV-positiv ist. Ich bin betroffen, ebenso während der anschließenden Besichtigung von zwei Plan-Projekten. Das Mukuja Health Center und Petta Health Center sind auf HIV/Aids spezialisiert. In so genannten „Post Test Clubs“ (PTC) treffen sich positiv und negativ getestete Menschen, auch Aids-Waisen. Gemeinsames Singen, Tanzen und Rollenspiel lindern ihre psychisch-seelischen Verletzungen. Auch Vincents Mutter Pulkeria besucht einen PTC.
Meinen Einblick in die Plan-Arbeit vor Ort in Uganda möchte ich nicht missen, und ich bin froh, dass ich meine zehnjährige Patenschaft mit einem Besuch abschließen konnte.
Kleiner Nachtrag: Vincent geht wieder zur Schule!
Ende Januar bekomme ich eine sensationelle Mail von Sponsorship Manager Christine Ikee aus Uganda: Vincent wolle ab Februar wieder zur Schule gehen und im Dezember dieses Jahres seine Abschlussprüfung machen, um anschließend eine weiterführende Schule besuchen zu können „Ich hoffe, er wird sein Versprechen einhalten - und seine Wünsche für sein Leben erfüllen sich“, schreibt Christine. Dem kann ich mich nur anschließen.