
„Wir sind nicht mehr unsichtbar!“
Hélène ist 13 Jahre alt. Sie lebt in Korodou, einem Vorort von Kissidougou im Süden Guineas. Wie viele andere Mädchen in ihrem Alter ist sie wissbegierig und gerade dabei, ihre Wünsche und Träume zu entdecken. Doch Hélène musste schon früh lernen, dass ihr nicht alle Möglichkeiten im Leben offenstehen.
Weil sich ihre Eltern ihre Ausbildung nicht mehr leisten konnten, musste sie vor einigen Jahren die Schule abbrechen. Widerwillig blieb sie zuhause und ging ihrer Mutter bei der täglichen Hausarbeit zur Hand. Ihre eben erst aufgekeimten Träume begannen allmählich wieder zu verblassen, erstickt von der harten Wirklichkeit. „Ich sah andere Kinder zur Schule gehen, während ich zu Hause blieb“, erinnert sich Hélène sehnsüchtig. „Ich redete mir ein, dass dies vielleicht mein Schicksal ist.“

Wenn Bildung zum Luxusgut wird
In weiten Teilen Guineas wird oft schweigend hingenommen, wenn Mädchen die Schule abbrechen. Die schmerzhafte Realität aus Armut, Geschlechterungleichheit und früher Verantwortung, die den Mädchen von ihrem Umfeld auferlegt werden, bleibt weitgehend unbeachtet. Perspektiven gibt es nur wenige.
Trotz des boomenden industriellen Bergbaus leben über 43 Prozent der Bevölkerung in Armut, die meisten auf dem Land. Knapp die Hälfte der Kinder im Grundschulalter geht nicht zur Schule – obwohl Schulpflicht herrscht. Das liegt häufig daran, dass die nötige Infrastruktur fehlt und in vielen Familien schlichtweg kein Geld für Unterrichtsmaterial oder Schuluniformen da ist. Dann müssen die Kinder zum Einkommen beitragen, werden arbeiten geschickt oder müssen auf den Feldern und im Haushalt helfen.
Mädchen und Frauen trifft dieser Umstand besonders hart. Tief verwurzelte diskriminierende Geschlechternormen – wie etwa die Frühverheiratung – schränken ihre Möglichkeiten auf Bildung ein und machen sie von ihren Ehemännern abhängig. Das schlägt sich auch in der Alphabetisierungsquote nieder: Während rund 61 Prozent der Männer in Guinea lesen und schreiben können, sind es bei den Frauen nur halb so viele (31 Prozent).
„Ich spreche vielleicht nicht wie jemand, der studiert hat, aber heute kann ich Französisch verstehen und mich auf Französisch ausdrücken. Das ist für mich ein großer Erfolg.“
Hoffnung für die Kinder in Korodou
Doch selbst in diesem schwierigen Umfeld gibt es Geschichten voller Hoffnung. So auch die von Hélène. Als sie von einem neuen Projekt in ihrer Gemeinde erfuhr, das Kindern wieder eine Chance auf Bildung ermöglicht, wollte sie unbedingt mehr darüber erfahren. Eifrig und entschlossen bat sie ihre Mutter um Erlaubnis, sich für einen der angebotenen Kurse anzumelden – und wurde zugelassen. „Ich sprach nicht sehr gut Französisch und konnte weder lesen noch schreiben“, blickt sie auf ihren ersten Tag im Lernzentrum zurück. „Ich hatte Angst, aber ich beschloss, es trotzdem zu versuchen.“
Der Unterricht begann zunächst mit den Grundlagen: Lesen, Schreiben und Rechnen sowie gesprochenes Französisch. Hélène machte schnell Fortschritte. Sie lernte, ihren Namen zu schreiben, einfache Sätze zu lesen und grundlegende Rechenaufgaben zu lösen. Und sie gewann ihr Selbstvertrauen zurück. „Ich spreche vielleicht nicht wie jemand, der studiert hat, aber heute kann ich Französisch verstehen und mich auf Französisch ausdrücken. Das ist für mich schon ein großer Erfolg“, sagt sie stolz.


Ein Projekt, das zweite Chancen schenkt
Das Lernzentrum, in dem Hélène neuen Mut schöpfen konnte, ist auf Initiative von Plan International entstanden. Es ist Teil eines Projekts, mit dem die Kinderrechtsorganisation benachteiligten Kindern im Alter von 9 bis 15 Jahren eine zweite Chance geben will. Die kostenlosen Unterrichtseinheiten im Lernzentrum bieten Mädchen und Jungen, die keine formale Schule besuchen, die Möglichkeit, Bildungslücken zu schließen. Durch flexible, maßgeschneiderte Programme können sie versäumte Schulbildung nachholen und grundlegende Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse erwerben. Auch Nähkurse speziell für Mädchen stehen auf dem Programm – eine Fertigkeit, die Hélène schon immer lernen wollte.

Ein Ort, der Zusammenhalt schafft
Nach den Grundlagen folgte für Hélène eine Berufsausbildung zur Schneiderin. Dank der vom Projekt bereitgestellten Ausrüstung – darunter Nähmaschinen, Stoffe und Nähwerkzeuge – lernte sie, wie man eine Nähmaschine bedient, Stoffe präzise zuschneidet und Damenbekleidung näht. „Ich habe mein erstes Kleid ganz alleine genäht“, sagt sie mit leuchtenden Augen. „Ich konnte es kaum glauben! Ich fühlte mich nützlich und fähig.“
Die Nähkurse sind für Hélène und die anderen Mädchen aber nicht nur reine Berufsschulen. Sie bieten Raum für Dialog und Freundschaft, sind ein lebendiger Ort der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität. Diskussionen über die Gleichstellung der Geschlechter und reproduktive Gesundheit haben den Teilnehmerinnen geholfen, ihren Platz in der Gesellschaft und ihre Rechte besser zu verstehen. „Dank des Austauschs mit meinen Klassenkameradinnen habe ich gelernt, mich auszudrücken und darüber nachzudenken, was ich wirklich mit meinem Leben anfangen möchte. Ich bin nicht mehr allein. Ich bin Teil einer Gruppe starker Mädchen“, fasst es Hélène zusammen.
Neues Leben, große Träume
Aus dem schüchternen, ruhigen Mädchen von einst ist inzwischen eine selbstbewusste Teenagerin mit einer klaren Vorstellung von ihrer Zukunft geworden. „Ich möchte meine Ausbildung abschließen, meine eigene Nähwerkstatt eröffnen und das, was ich gelernt habe, an andere Mädchen weitergeben“, erklärt Hélène. „Ich möchte ihnen zeigen, dass auch sie erfolgreich sein können.“
Ihr Weg zeigt, dass mit gezielter und bedarfsorientierter Unterstützung Leben verändert werden können. Hélène hat nicht nur ihr Selbstvertrauen und ihre Zukunft zurückgewonnen, sondern kann nun auch anderen Mädchen die Türen zu einem neuen Leben öffnen. Für die Teenagerin ist klar: „Wir sind nicht mehr unsichtbar. Wir sind bereit, unsere Zukunft aufzubauen.“
Die Geschichte von Hélène wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Guinea aufgeschrieben.