„Wir sind in Sudan, um zu helfen“

Foto: Abdelrahman Justen

Sudan ist Schauplatz der größten humanitären Krise der Welt. Im Interview erklärt Plan-Länderdirektor Mohamed Kamal die Hintergründe und Folgen des Konflikts sowie Möglichkeiten für humanitäre Hilfe.

Seit April 2023 kämpfen rivalisierende Fraktionen in Sudan um Einfluss und Territorien – mit verheerenden Konsequenzen: Die zerstörerischen Auseinandersetzungen zwischen der regulären sudanesischen Armee und der rivalisierenden RSF-Miliz haben das ostafrikanische Land gespalten. 14,5 Millionen Menschen sind vor den Kämpfen auf der Flucht, jede zweite Person (25 Millionen) hat keinen Zugang zu Wasser, Nahrung oder einer sicheren Unterkunft.  Kinder gehen nicht mehr zur Schule. Tausende Mädchen und Frauen erfahren sexualisierte Gewalt, und der Hunger nimmt alarmierende Ausmaße an.

Wie dennoch humanitäre Hilfe geleistet werden kann, beantwortet nachfolgend Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan.

In einer Ebene steht ein verrosteter Panzer zwischen Bäumen und Gräsern
Die Spuren früherer Kriege sind bis heute in Sudan sichtbar Alf Berg
Zwei Männer mit Schutzwesten unterhalten sich
Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan (li.), verfolgt mit einem Kollegen die Vergabe von Hilfsgütern in der Stadt Port Sudan Plan International

Plan Post: Was sind gerade die größten Herausforderungen in Sudan?

Mohamed Kamal: Es fehlt an Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und Schutz vor Gewalt! Über 90 Prozent der Schulen sind zerstört oder werden als Unterkünfte für Binnengeflüchtete genutzt. Kinder können schon lange nicht mehr zur Schule gehen. In El Fasher, im Bundesstaat Dafur, sind mehr als eine Million Menschen seit mehr als einem Jahr von Wasser und Nahrung abgeschnitten, weil sie unter Belagerung stehen. Berichte bestätigen, dass Tausende Mädchen und Frauen im gesamten Land sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind.

„Kinder können schon lange nicht mehr zur Schule gehen.“

Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan

Wie kann Plan International Sudan angesichts einer so komplexen und gefährlichen Lage überhaupt arbeiten?

Jeden Tag riskieren unsere Teams ihr Leben. Als humanitärer Akteur in Sudan zu arbeiten, ist heute nicht nur harte Arbeit – es ist lebensgefährlich. Unsere Teams sind zur Zielscheibe von Gewalt geworden, doch wir machen weiter, weil die Bedürfnisse der Kinder und Familien größer sind als unsere Angst.
Im Mai 2025 war die Stadt Port Sudan, wo sich eines unserer Büros befindet, Ziel schwerer Drohnenangriffe. Dennoch haben unsere Fachleute ihre Arbeit nicht eingestellt. Plan International Sudan ist von verschiedenen Büros im ganzen Land aus tätig, darunter Kassala, Al Gedarif, Nord-Darfur, Weißer Nil und Port Sudan. So können wir auch unter schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen in der Nähe der Gemeinden bleiben, denen wir helfen.

Zwei Männer stehen auf einem Lastwagen und laden Kartons ab
Plan International organisiert Nothilfe in Sudan – Wasser, Lebensmittel und Hygieneartikel Plan International

„Wir sind manchmal die einzige Organisation, der aufgrund des Vertrauens, das wir über Jahre aufgebaut haben, Zugang gewährt wird.“

Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan

Seit dem Ausbruch des Konfliktes im Jahr 2023 haben unsere Teams unermüdlich gearbeitet und sind oft auf unsicheren Straßen oder unter Bombardements gereist, um lebensrettende Hilfe zu leisten. Wir organisieren Nothilfe – Wasser, Lebensmittel und Hygieneartikel – und sind manchmal die einzige Organisation, der aufgrund des Vertrauens, das wir über viele Jahre hinweg bei den lokalen Gemeinschaften aufgebaut haben, Zugang gewährt wird. Dieses Vertrauen hat es uns ermöglicht, Orte zu erreichen, die für andere unzugänglich sind.
Allein in Nord-Darfur konnten wir trotz der Risiken über 75.000 Familien und Einzelpersonen mit Notfallgütern versorgen. Wir glauben an die Bedeutung eines guten, sicheren Lebens und arbeiten daher weiter, denn die Menschen in Sudan verdienen es. Auch in den schwierigsten Zeiten sollen sie mit Hoffnung leben und ihre Würde bewahren können.

Eine Frau spricht mit einer Gruppe Kinder vor einer Strohhütte
In den Notunterkünften in Sudan organisiert Plan International Schulstunden für geflüchtete Kinder Mona Elfateh

„Auch in den schwierigsten Zeiten sollen die Menschen mit Hoffnung leben und ihre Würde bewahren können.“

Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan

Als Kinderrechtsorganisation haben wir einen Fokus auf Kinder – speziell auch auf Mädchen und junge Frauen. Wie ist ihre Situation?

Ich möchte gerne von Fatima erzählen, einer 13-Jährigen, der ich begegnet bin. Sie saß unter einem Baum mit ihrem Notizheft und schrieb. Ich fragte sie: „Was machst du hier?“ Sie erzählte, dass sie gerade aus dem Wald zurückgekommen sei, wo sie seit sechs Uhr morgens Holz zum Verkaufen für ihre Familie gesucht habe. „Machst du das jeden Tag?“, fragte ich. Sie sagte: „Ja, ich stehe immer so früh auf und gehe zwei Kilometer zu Fuß, um Holz zu holen.“ Doch danach würde sie ihr Notizbuch und ihre Schulsachen holen, um zu lernen, denn sie besuche eine der von Plan eingerichteten Übergangsschulen. Ich fragte sie, was sie gerne mal werden würde. Fatima antwortete: „Früher wollte ich Ärztin werden. Aber jetzt möchte ich Lehrerin werden, um Kindern beizubringen, wie wichtig Frieden ist, wie wichtig es ist, einander zu akzeptieren.“ Dieses Gespräch hat mich sehr berührt.

Ein lachender Junge drückt einen Schulrucksack mit dem Logo von Plan International an sich
Ein Junge hat einen Rucksack mit Schulausstattung von Plan International erhalten Abdelrahman Justen
Zwei Mädchen lehnen an einer Strohhütte und schauen zusammen in ein Buch
Die Familien fliehen meist ohne Nahrungsmittel oder Haushaltsgegenstände. Spielzeuge und Bücher teilen sich die Kinder in der Notunterkunft Mona Elfateh

Es ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie sehr eine solche Krise das Leben der Jüngsten auf den Kopf stellt. Wie kann man sich eine Übergangsschule vorstellen?

Da die formale Bildung im Sudan zusammengebrochen ist – 17 Millionen Kinder haben keinen Zugang mehr zu Bildung – haben wir in unseren Programmgebieten Übergangslernorte eingerichtet.

Wir bringen Kinder unter einem Baum, auf einem offenen Platz, der in der Gemeinde sicher ist, oder in einem Gebäude zusammen, um sie dort zu unterrichten. Dazu arbeiten wir mit lokalen Lehrkräften, die sich trotz der enormen Herausforderungen, denen sie ausgesetzt sind, weiterhin für die Bildung von Kindern engagieren, weil sie glauben, dass Bildung der Schlüssel zu einem neuen, friedlichen Sudan ist. Außerdem verteilen wir Hefte, Stifte oder Rucksäcke. Viele Kinder sind sehr müde und erschöpft, weil sie mangelernährt sind.

Hunger ist einer der Hauptgründe, warum Hunderttausende Kinder nicht zur Schule gehen. Zusammen mit dem World Food Programm der Vereinten Nationen (WFP) führen wir deshalb ein Schulernährungsprogramm durch. Das heißt, wer die Übergangsschule besucht, bekommt dort auch etwas zu essen. Ein wichtiger Anreiz für Eltern und Kinder, damit dieses Angebot angenommen wird.

„Die lokalen Lehrkräfte glauben, dass Bildung der Schlüssel zu einem neuen, friedlichen Sudan ist.“

Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan
Ein Mann mit brauner Weste und Sonnenbrille steht auf einem sandigen Platz
Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan Plan International

Kinder in Sudan haben kein normales Leben mehr und leiden unter traumatischen Erlebnissen. Was kann Plan International tun, um sie zu unterstützen?

Um Kindern zu helfen, schaffen wir sichere Aufenthaltsorte, wo Mädchen und Jungen regelmäßig für ein paar Stunden zum Spielen, Lernen, Malen und Singen hinkommen können. Wir bieten dort kindgerechte Aktivitäten an, darunter Musik, Theater und manchmal auch Sportwettkämpfe, bei denen sie wirklich das Gefühl haben, dass sie immer noch Teil der Gemeinschaft sind, aber auch weit weg sind von dem Lärm der Drohnen, Waffen und den Explosionen. Die Idee ist auch, dass Kinder solche „safe spaces“ selbst leiten, indem sie selbst entscheiden, welche Spiele und Aktivitäten dort stattfinden und wie der Zeitplan für die Durchführung dieser Aktivitäten aussieht. So erleben sie, dass es ihr eigener Raum ist. Sie entwickeln dabei auch wichtige Lebenskompetenzen wie das Sprechen vor anderen, Teamarbeit und Selbstvertrauen.

 

Immer wieder hören wir von Vergewaltigungen. Wie sehr sind Mädchen und Frauen von diesem Konflikt betroffen?

Mädchen und Frauen in Sudan zahlen einen sehr hohen Preis für diesen brutalen Konflikt. Sudan ist ein Land, das mehr als drei Jahrzehnte von einem konservativen islamischen Regime regiert wurde. Viele sudanesische Frauen haben Genitalverstümmelung erlebt. Derzeit sind Tausende Mädchen und Frauen sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Ein UN-Bericht hat bestätigt, dass Mädchen und Frauen in Darfur systematisch vergewaltigt wurden.

„Kinder sollen selbst entscheiden, welche Aktivitäten stattfinden und wie der Zeitplan dafür aussieht.“

Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan

Kann Plan den betroffenen Mädchen und Frauen helfen?

Unser Ansatz basiert auf psychosozialer Betreuung. In einer konservativen Gesellschaft wie in Sudan ist es tabu, über solche Erlebnisse zu sprechen. Im schlimmsten Fall werden von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen auch noch von den sie umgebenden Menschen stigmatisiert. Ihnen wird vorgeworfen, sich möglicherweise nicht genügend geschützt zu haben. Die Täter drohen den Frauen auch oft, dass sie über das Geschehene nicht sprechen dürfen.
Wir bringen diese Frauen wieder ins Handeln. Wir machen ein Mapping, um zu erfahren, welche von ihnen schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat. Dazu braucht es Vertrauen. Wir bieten geschützte Räume an, in denen Mädchen und junge Frauen mit weiblichem Personal über ihr Leben und ihre Themen sprechen können. Wir stellen Hefte, Stifte und andere Materialien zur Verfügung und bitten sie zum Beispiel, festzuhalten, was sich in ihrem Leben verändert hat, wie es vor dem Konflikt war und wie es jetzt ist. Wenn das Vertrauensverhältnis geschaffen ist, können wir in der Regel diejenigen identifizieren, die Gewalt ausgesetzt waren. Wir bieten psychosoziale Unterstützung und Bargeldprogramme an, damit die Überlebenden ihre wichtigsten Bedürfnisse erfüllen können und allmählich wieder Selbstvertrauen gewinnen.

Für Schutz mitten im Krieg

Etwa 14,5 Millionen Menschen sind in Sudan auf der Flucht, weitere 4 Millionen haben sich in den Nachbarländern wie Äthiopien, Südsudan, Tschad und der Zentralafrikanischen Republik in Sicherheit gebracht, wo Plan International humanitäre Hilfe leistet.
In Äthiopien zum Beispiel mit dem Projekt Ein Platz für Leben.

Jetzt unterstützen
Eine Frau sitzt an einem Tisch und notiert die Namen von Mädchen, die um sie herum stehen
Eine Plan-Mitarbeiterin registriert in Sudan Mädchen, die Unterstützung beim Schulbesuch erhalten Abdelrahman Justen

Wie geht es anschließend für die betroffenen Frauen weiter?

Über das Erlebte zu sprechen, ist der erste Schritt zur Rehabilitation. Es geht darum, die Resilienz der Betroffenen zu stärken, den Mädchen zu zeigen: Ja, das war eine sehr schmerzhafte Erfahrung, deine Rechte wurden massiv verletzt, aber du bist stark und kannst dein Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Es gibt immer junge Frauen, die besonders motiviert und stark sind und dann eine wichtige Rolle als Aktivistinnen und Vorbilder für andere einnehmen. Wir haben unser Ziel erreicht, wenn Mädchen in solchen Gruppen sagen: „Ich lasse mich nicht unterkriegen! Ich weiß jetzt, dass ich Rechte habe, fühle mich motiviert, gestärkt und werde aktiv.“

„Für schwere Fälle sexualisierter Gewalt haben wir ein Meldesystem.“

Mohamed Kamal, Länderdirektor von Plan International Sudan

Und was ist mit den Jungen und Männern?

Die beziehen wir auch in unsere Arbeit mit ein! Es geht darum, positive Männlichkeit zu fördern, darauf hinzuarbeiten, dass die Jungen den Mädchen zur Seite stehen und sich für sie einsetzen. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass Jugendliche gemeinsame Theaterstücke zum Thema Kinderrechte entwickeln und diese aufführen.

 

Dennoch gibt es sicher Gewalterfahrungen, in denen psychosoziale Betreuung nicht reicht. Was wird dann gemacht?

Für schwere Fälle sexualisierter Gewalt haben wir ein Meldesystem. Wir sprechen dann mit der Polizei oder den lokalen Verantwortlichen. Das Problem ist, dass es keine funktionierenden Gerichte in Sudan mehr gibt. Die legalen Strukturen sind zusammengebrochen. Dennoch finden sich in den Gemeinden immer noch Stammesführer oder lokale Autoritäten, die einen erheblichen Einfluss darauf haben, was in ihrer Region geschieht und entsprechend eingreifen können.

Fatima und ihre Eltern sitzen in ihrem Zelt auf dem Boden. Die Eltern helfen ihrer Tochter mit den Schularbeiten
Zusammen mit ihren Eltern lernt Fatima für die Schule Plan International
Eine Frau sitzt mit ihren Habseligkeiten in einem Zelt
Shadia (21) lebt in einer Notunterkunft für vertriebene Menschen in der Stadt Port Sudan Plan International

Was sollte die Weltgemeinschaft und auch die deutsche Regierung angesichts all dieser Herausforderungen tun?

Die deutsche Regierung, die sich der Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet hat, muss eine proaktivere Rolle spielen, um Menschenleben zu retten. Sie sollte mehr Initiativen ergreifen, um mit den Konfliktparteien zu reden und den Krieg zu stoppen, bevor es zu spät ist. Wir brauchen nicht nur mehr Geld, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, wir brauchen vor allem einen starken Willen, sich für die Einhaltung der Menschenrechte stark zu machen. Dieser Krieg muss enden, sonst werden uns die Kinder in Sudan eines Tages fragen: „Warum war es euch kein Anliegen, uns zu schützen?“
Nach mehr als zweieinhalb Jahren ist die Krise in Sudan nach wie vor die größte humanitäre Krise dieses Jahrzehnts. Gleichzeitig ist sie die am wenigsten finanzierte. Sie ist eine vernachlässigte Krise, für die Millionen Mädchen, Kinder und Frauen den Preis zahlen.

Sie mögen diesen Artikel? Teilen Sie ihn gerne.