
Schule als letzter Hoffnungsanker
Es ist noch früh am Morgen in Jacmel, Haiti, als Soline sich für die Schule fertig macht. Ihre kleine Schwester schläft neben ihr, auf dem Boden steht eine leere Wasserkanne. Draußen krähen die Hähne, irgendwo spielt jemand Musik. Soline zieht ihre Schuluniform über, obwohl sie weiß, dass sie wieder ohne Frühstück losgehen wird. „Das größte Problem ist, ohne Essen zur Schule zu gehen“, sagt sie leise. „Aber ich will meine Träume nicht aufgeben.“

„Vor der Flucht hatte ich ein gutes Leben. Jetzt müssen wir manchmal ohne Wasser auskommen.“
Eine Kindheit, die plötzlich endet
Bis vor Kurzem lebte Soline mit ihrer Familie in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis. Dort besuchte sie die Schule, sang im Chor und spielte mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Das Leben war einfach, aber vertraut.
Dann änderte sich alles. Als bewaffnete Gruppen im Frühjahr 2024 die Kontrolle über Teile der Stadt übernahmen, brach der Alltag auseinander. „Der schlimmste Moment war, als Schüsse ein Fenster zerbrachen“, erinnert sie sich. Gewalt, Entführungen und Übergriffe wurden zur neuen Realität.
Im Juni 2024 floh Soline gemeinsam mit ihrer Großmutter und ihren beiden jüngeren Schwestern nach Jacmel im Südosten des Landes – ein Ort, der als vergleichsweise sicher gilt, aber ebenfalls von den Folgen des Konflikts gezeichnet ist. Ihre Mutter blieb in der Hauptstadt zurück, ihr Bruder lebt im Norden.
In Jacmel musste die Familie von vorn beginnen. Die Großmutter, die früher ein kleines Geschäft führte, verkauft nun Kosmetika und Kleinigkeiten auf dem Markt, um das Nötigste zu verdienen. Aber das Geld reicht kaum für Miete, Essen und Schulgebühren.

Hunger und die Hoffnung auf Bildung
Seit ihrer Flucht ist Solines Leben von Unsicherheit geprägt. Drei Monate lang konnte sie keinen Unterricht besuchen. Erst als ihre Großmutter einen Teil ihrer Ersparnisse an die Schule zahlte, durfte sie sich wieder einschreiben. Nun sitzt Soline in der neunten Klasse – oft hungrig, aber entschlossen weiterzumachen.
„Ich möchte Krankenschwester werden, um meiner Familie und anderen zu helfen“, sagt sie. Bildung ist für sie die einzige Möglichkeit, ihre Situation langfristig zu verändern.
Viele Mädchen in Haiti sehen sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Wer nicht zur Schule gehen kann, verliert nicht nur Bildung, sondern auch Schutz. Manche Kinder sind gezwungen zu arbeiten oder sich diversen Gefahren auszusetzen, um überleben zu können. Soline hat solche Geschichten selbst gehört. „Ich würde jedem Mädchen sagen: Hab Geduld. Lieber heute kämpfen, als später bereuen.“
Ein Land am Limit
Haiti befindet sich in einer der schwersten Krisen seiner jüngeren Geschichte. Nach Jahren politischer Instabilität ist das Land in vielerlei Hinsicht zusammengebrochen; Naturkatastrophen und weit verbreitete wirtschaftliche Not verschlimmern die Lage weiter. Bewaffnete Gruppen kontrollieren ganze Stadtteile, staatliche Institutionen funktionieren nur eingeschränkt.
Über 1,3 Millionen Menschen, darunter mehr als 700.000 Kinder, wurden innerhalb des Landes vertrieben. Die Preise für Lebensmittel und Wasser sind stark gestiegen, die Gesundheitsversorgung ist vielerorts zusammengebrochen. Besonders betroffen sind Mädchen und Frauen. Sie tragen die Hauptlast der Krise, kümmern sich um Haushalt und Familie, sind einem hohen Risiko von Gewalt ausgesetzt und müssen meist die Schule abbrechen. Laut UNICEF und Plan International benötigen mehr als vier Millionen Menschen in Haiti derzeit dringend humanitäre Hilfe.



Ein Ort, an dem Hoffnung wächst
Seit September 2024 nimmt Soline an einem Programm teil, das Plan International gemeinsam mit UNICEF in Jacmel ins Leben gerufen hat, um geflüchteten und besonders gefährdeten Kindern Schutz und Perspektiven zu bieten.
In der Stadt wurden mehrere kinderfreundliche Orte geschaffen: sichere Räume, an denen Mädchen und Jungen spielen, lernen und einfach Kind sein dürfen. Einer dieser Orte ist heute Solines Zuflucht. Hier erhält sie Schulmaterialien, nimmt an Workshops teil und lernt, wie sie sich selbst schützen und mit schwierigen Gefühlen umgehen kann.
„Manche Kinder haben keine Hoffnung, aber wenn sie hierherkommen, finden sie etwas zu essen – und Freunde.“
Das Projekt hat bereits über 4.400 Kindern geholfen. Neben Lern- und Freizeitangeboten wurden auch Schutzkomitees gegründet, um gefährdete Kinder zu identifizieren und zu unterstützen. Mehr als 500 Fälle von Gewalt und Vernachlässigung konnten so begleitet werden. Außerdem wurden über 400 Geburtsurkunden ausgestellt – ein wichtiger Schritt, damit Kinder ihre Rechte wahrnehmen können.
Plan International arbeitet dabei eng mit lokalen Organisationen, Schulen und Freiwilligen zusammen. So entstehen Strukturen, die auch dann weiterbestehen, wenn internationale Hilfe eines Tages abnimmt.

Mut für die Zukunft
Trotz der herrschenden Unsicherheit kann Soline nun wieder Momente der Unbeschwertheit finden. Nach der Schule spielt sie mit ihren Schwestern Verstecken oder das traditionelle haitianische Brettspiel Kay. Wenn sie traurig ist, hört sie Gospelmusik oder schläft, um nicht zu viel nachzudenken.
„Ich bin glücklich, wenn ich mit meinen Schwestern spiele, sie ärgere und lache“, sagt sie. Auch ihr Geburtstag im Mai war ein seltener Moment des Glücks: „Wir haben zusammen gegessen und einfach die Zeit genossen.“ Diese kleinen Augenblicke geben ihr Kraft, weiterzumachen – Tag für Tag. Trotz Hunger, Verlust und Trennung von ihrer Familie bleibt Soline zuversichtlich. Sie möchte ihre Schulbildung beenden und Krankenschwester werden: „Ich möchte eines Tages erfolgreich sein und etwas zurückgeben“, sagt sie. „Ich glaube, dass sich alles ändern kann – irgendwann.“
Die Geschichte von Soline und ihrer Familie wurde mit Material aus dem haitianischen Plan-Büro aufgeschrieben.