In Brasilien stehen heranwachsende Mädchen derzeit vor besonderen Herausforderungen: Obwohl das Land sich durch die Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN (auch Sustainable Development Goals, kurz SDGs) zur Gleichstellung der Geschlechter, Verbesserung der Qualität von Bildung und Gesundheit und die Beseitigung von Armut verpflichtet hat, wurden in den letzten Jahren Investitionen der Regierung in genau diesen Bereichen reduziert. Um in dieser kritischen Situation die Bedarfe von Mädchen zu erfassen, ihnen zuzuhören und eine Plattform zu bieten, hat Plan International in Brasilien eine Umfrage durchgeführt. Dort wurde in Interviews und Fokus-Gruppen erfasst, wie die Realität von Mädchen im Alter von 14 bis 19 Jahren aussieht, welche Ängste, Träume und Herausforderungen ihren Alltag und ihre Entwicklung prägen.
Die Umfrage hat bestätigt, dass Mädchen und junge Frauen in Brasilien innerhalb und außerhalb des Hauses mit bestehenden sozialen Strukturen konfrontiert werden, die traditionelle Geschlechterrollen verstärken, ihre Sicherheit gefährden und ihre Entwicklungsmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht einschränken. 69 Prozent der Befragten haben das Gefühl, dass ihre Rechte nicht respektiert werden, weil sie Mädchen beziehungsweise Frauen sind.
Viele Mädchen berichten, dass sie zuhause anders behandelt werden als ihre Brüder: Sie leisten doppelt so viel Hausarbeit wie Jungen und werden schon früh für die Betreuung anderer Personen verantwortlich gemacht. Eine 14-jährige Studienteilnehmerin aus Manaus erzählt: „Meine Mutter arbeitet die ganze Zeit. Es ist nicht leicht für mich, denn ich muss mich um meine jüngeren Geschwister kümmern, Hausarbeiten verrichten und nebenbei noch meine Schulaufgaben machen. Ich versuche alles richtig zu machen, aber es ist schwer.“ Solche Verantwortungen lenken die Mädchen von ihrer Ausbildung ab und hindern sie daran, sich frei zu entfalten.
Außerdem ist das Zuhause auch häufig ein Ort, an dem Mädchen schon früh Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt machen. „In Ehen gibt es physische Gewalt, und auch in anderen Partnerschaften. Ich habe das bei meiner Mutter mitbekommen, schon als ich vier Jahre alt war“, erinnert sich ein 15-jähriges Mädchen aus Maués.
„Jungs können sich deutlich freier bewegen, ohne Sorgen. Mädchen hingegen müssen dauernd mit der Angst rumlaufen, dass ihnen etwas passieren könnte.“
Insgesamt waren 94 Prozent der Befragten bereits Zeuginnen oder Opfer von Gewalt - zuhause oder im öffentlichen Leben. Dadurch fühlen sich viele Mädchen eingeschränkt und empfinden einen großen Nachteil gegenüber ihren männlichen Altersgenossen. Eine Studienteilnehmerin aus São Paulo beobachtet: „Jungs können sich deutlich freier bewegen, ohne Sorgen. Mädchen hingegen müssen dauernd mit der Angst rumlaufen, dass ihnen etwas passieren könnte.“ Das spiegelt sich in der Befragung wider: 57 Prozent der Mädchen gaben an, dass sie Angst haben, alleine auf die Straße zu gehen, weil sie fürchten, belästigt oder angegriffen zu werden.
Eine erschreckende Erkenntnis der Befragung ist, dass Mädchen und junge Frauen von den Institutionen, die sie beschützen sollten, im Stich gelassen werden: Die Erwachsenen, denen sie sich anvertrauen, kommen ihrer Verantwortung nicht nach. Im Gegenteil: Eine große Anzahl von Mädchen, die von Lehrern und Mitschülern missbraucht oder belästigt werden, werden von Schulleiter:innen zum Schweigen gebracht. 32 Prozent berichten, dass sie in der Schule belästigt wurden, unter anderem auch vom Lehrpersonal. „Wir haben uns an die Schulleitung gewandt. Wir hatten Beweise und Zeugenaussagen. Doch sie wollten den Ruf der Schule nicht schädigen und haben überhaupt nichts unternommen“, erzählt eine 18-Jährige aus Porto Alegre. Das zeigt, dass die Umgebungen, in denen sich Mädchen geschützt entfalten sollten, nicht wirklich sicher sind.
„Wir haben uns an die Schulleitung gewandt. Wir hatten Beweise und Zeugenaussagen. Doch sie wollten den Ruf der Schule nicht schädigen und haben überhaupt nichts unternommen“
Auch im privaten Umfeld werden Mädchen mit ihren Problemen oft allein gelassen. Obwohl die Umfrage ergab, dass für 63 Prozent der Mädchen ihre Mütter die zentralen Bezugspersonen sind, haben sie nicht das Gefühl, sich mit ihren Problemen an sie wenden zu können. Die Mütter sind auch häufig nicht imstande, ihren Töchtern zu helfen, weil sie selbst Gewalt und Benachteiligungen erfahren haben und nicht die notwendige Unterstützung von der Gesellschaft erhielten. Diese Spirale von Gewalt und Schweigen muss dringend unterbrochen werden, um die kommenden Generationen zu schützen und zu befreien.
Plan International setzt sich dafür ein, dass Mädchen ihre Rechte kennen und ermächtigt werden, sie einzufordern. In unserer gemeindebasierten Projektarbeit arbeiten wir mit ihnen zusammen, damit sie das Umfeld, in dem sie großwerden und sich entfalten, selbst gestalten können. Die Ergebnisse der Befragung zeigen deutlich, dass eine Investition in die Stärkung von Mädchenrechten auf allen Ebenen der Gesellschaft erforderlich ist. Wer sich heute für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Mädchen einsetzt, sorgt morgen für eine Generation freier und selbstbewusster Frauen, die die Gesellschaft bereichern und die Welt ein Stück besser machen.